Als im Februar 2022 Russland die Ukraine angriff, kehrte in Europa der Krieg zurück, der nach Jahrzehnten des Friedens unvorstellbar geworden war. Offensichtlich aber gibt es keinen Grund zu meinen, der Krieg wäre vergangen. Den Krieg denken, bleibt uns bevor. Ebenso wie eine Sprache dafür finden, die uns hellhörig macht für Töne, Bilder und Begriffe, die ein Denken von Krieg und Verachtung zeigen. Wie vom Krieg sprechen, lautet die Grundfrage der Literaturtage Lana 2022, die vom 30. August bis 1. September Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus osteuropäischen, ex-sowjetischen Ländern versammeln.
„Zerstöret das Letzte, die Erinnerung nicht,“ lautet das Zitat von W.G. Sebald, das sich die Literaturtage 2009 für den Titel borgten. Seither geht das Festival von Lana immer wieder und in vielfachen Deklinationen dem Thema der Erinnerung nach und stellt Fragen nach dem Gedächtnis und nach der Art und Weise, wie es den langen Arm der Geschichte im Einzelnen und im Kollektiv bewahrt oder bricht. Wie Erinnerung die Gegenwart mit der Vergangenheit verbindet und dabei in Lücken hüpft, die ein Damals bergen und durch Literatur hervorholen, zeigten in Lana häufig Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus dem osteuropäischen Raum, wo das Imperium der Sowjetunion bis ins Kleinste und Intimste hinein wirkte und Lebens- und Denkformen weit über den Zusammenbruch des Großreiches hinaus bestimmte. Man meinte, man erkenne in dessen Erbe eine Wahrheit, die ausreichen musste für ein Ende.
Mit einem Mal jedoch schlug sie auf eine Weise zu, die für viele von uns unerwartet kam und unsere vermeintliche Erkenntnis noch einmal revidierte.
Am 22. Februar 2022 griff Russland die Ukraine an. Damit kehrte in Europa der Krieg zurück, der nach Jahrzehnten des Friedens unvorstellbar geworden und, ja, verabschiedet war. Hatten wir doch Deutungen dafür gefunden, die uns vor einer Wiederkehr der Gewalt bewahren müssten. Meinten wir doch, ein Frieden sei stabilisiert, der stärker sein müsste als alle Ideologien, die in Katastrophen führen. Offensichtlich aber gibt es keinen Grund zu meinen, der Krieg wäre vergangen. Den Krieg denken, bleibt uns bevor. Ebenso wie eine Sprache dafür finden, der wir vertrauen können, weil sie sich deckt mit unseren Erfahrungen.
Die Bedeutung, für die das Wort „Krieg“ steht, kennen wir aus dem Gedächtnisspeicher, der uns durch Überlieferungen zur Verfügung steht. Wir wissen von der Realität, die es abbilden will, durch die Zeugnisse anderer, die davon erzählten und berichteten und deren Erzählungen und Berichte wir abrufen, damit der Schrecken und das Leid anderer nicht vergessen wird.
Aber eigene Worte dafür haben wir im Grunde noch nicht. Wir haben keine Sprache für eine Realität, die für uns noch nie wahr geworden ist. Welche Sprache wahr sein könnte, wenn es überhaupt eine gibt, die gegen die Realität des Krieges nicht verlieren würde, macht uns auf eine Weise verlegen gleich wie uns die Notwendigkeit dafür dringend scheint.
Wie nun reden über eine Wirklichkeit, die wie jeder Krieg mit einer Lüge beginnt? Wie reden über Gewalt und Vernichtung, die eine Wahrheit behaupten, die nur der Betrug am Frieden und die Lüge am Leben sein kann? Wie reden, dass wir nicht das schale Gefühl haben, es sei alles falsch, was wir zu sagen versuchen, und könne nie zur Deckung kommen mit einer Realität, deren Bedeutung uns unerwartet näher kommt, während deren Sinn abrutscht zum Wahnsinn?
Welche Worte und Wörter wir seit dem Februar für unsere Welt finden, die scheinbar plötzlich vom Krieg berührt wird, ist die Frage, die uns weder billig den Mund aufreißen noch ohnmächtig schlagen darf. Möglicherweise stellt sie sich an einem geschichtlichen Wendepunkt. Möglicherweise stellt sie uns die Frage nach dem, wofür wir stehen und wofür wir uns entscheiden. Denn genauso wie es stimmt, dass wir keine Worte für die Ungeheuerlichkeit des Krieges zu haben meinen, stimmt es auch nicht. Wenn wir die Sprache dafür nämlich nicht zu finden und zu sagen versuchen, überlassen wir sie dem Krieg und seiner Lüge und verkennen, wo sie auch abseits eines militärischen Schauplatzes herrscht. Wenn wir uns nicht auch durch Sprache zur Unterscheidung fähig stimmen und hellhörig werden, wie im öffentlichen, aber auch privaten Diskurs gesprochen wird, überhören wir, wo die Töne, Begriffe und Bilder ein Denken der Feindschaft und Verachtung aufwerfen und wo mit Eindeutigkeiten Politik und Propaganda gemacht wird, um aus Unsicherheiten Kapital zu schlagen.
Die Literatur bietet uns Möglichkeiten, auch das Schreckliche zu benennen, und ihre Sprache bietet uns die Fähigkeit zur Unterscheidung, die notwendig ist, um das Denken von Krieg oder das des Friedens zu erkennen. Wie vom Krieg sprechen, lautet die Grundfrage dieser Literaturtage. Eine unüberbrückbare Kluft trennt uns von der Erfahrung des Krieges, aber die Anerkennung dieser Kluft ist die Bedingung ihrer Überwindung.
37. Literaturtage Lana 2022
30. August – 1. September 2022
„KRIEG UND FRIEDEN“
Dienstag, 30. August 2022
20.00 Uhr
Eröffnung mit Bürgermeister Dr. Harald Stauder, Elmar Locher, Präsident der Bücherwürmer, und Christine Vescoli, Kuratorin der Literaturtage Lana
Juri Andruchowytsch: „Radio Nacht“ (Aus dem Ukrainischen von Sabine Stör, Suhrkamp Verlag 2022)
Moderation: Ilma Rakusa
Mittwoch, 31. August 2022
18.00 Uhr
Ilma Rakusa: Kein Tag ohne (Droschl Verlag 2022)
Moderation: Christine Vescoli
19.00 Uhr
Valzhyna Mort: Musik für die Toten und Auferstandenen (Aus dem Belarussischen von Katharina Narbutovic. Suhrkamp Verlag 2021)
Moderation: Katharina Narbutovic
20.00 Uhr
Ljudmila Ulitzkaja: Ein Portrait
Einführung: Ilma Rakusa
Lesung: Patrizia Pfeifer
Videogespräch: Ganna Maria Braungardt und Christine Vescoli mit Ljudmila Ulitzkaja
Donnerstag, 1. September 2022
17.00 Uhr
Katrin Hillgruber: Lebendig und arbeitsam. Aus Stahlbeton.
18.00 Uhr
Yevgeniy Breyger und Dagmara Kraus
19.00 Uhr
Ernest Wichner: Heute Mai und morgen du
Moderation: Christine Vescoli
20.00 Uhr
Tomas Venclova: Variation über das Thema Erwachen (Gedichte. Aus dem Litauischen von Cornelius Hell. Edition Lyrik Kabinett bei Hanser 2022)
Moderation: Cornelius Hell