Emine Sevgi Özdamars Bestseller ist die wortgewaltige Begehung eines Raums zwischen Bedrohung und Geborgenheit – ein vielstimmiges Loblied auf ein Nachkriegseuropa, in dem es für kurze Zeit möglich schien, mit den Mitteln der Poesie Grenzen einzureißen. Er ist der sehnsuchtsvolle Nachruf auf die Freunde, Künstler, Bekanntschaften, die sie auf ihrem Weg begleiteten.
Der aktuelle Roman der Georg-Büchner-Preisträgerin 2022
Nach dem Militärputsch 1971 flieht die Erzählerin aus Istanbul übers Meer nach Europa. Wie auch andere Künstlerinnen und Künstler, Linke und Intellektuelle fürchtet sie um ihre Existenz. Im Gepäck: das unbedingte Verlangen, den so jäh gekappten kulturellen Reichtum ihres Landes andernorts bekannt zu machen und lebendig zu halten. Im geteilten Berlin, auf den Boulevards von Paris, im Zwiegespräch mit bewunderten Dichtern und Denkern, findet sie schließlich eine »Pause der Hölle«, in der Kunst, Politik und Leben uneingeschränkt vereinbar scheinen.
„Plötzlich war ich wach. Geräusche hinter der Wand, als würde ein Lastwagen immer wieder versuchen, durch die Wände durchzukommen. Tiere rannten oben im Dachboden, auch nebenan klopften Tiere mit ihren Füßen an die Wand. Jemand weinte, wahrscheinlich die blinde Frau, die jeden Morgen gegen vier Uhr vor ihrer offenen Haustür steht und dem Wind zuhört. In diesem Moment sieht sie aus, als ob sie sehen kann. Jede Nacht brennt die Lampe in ihrem Zimmer. Sie sitzt auf ihrem Bett, manchmal schläft sie im Sit- zen, mit offenen Augen, und sieht, wenn sie so schläft, wieder aus, als ob sie sehen kann. Wenn sie träumt, sieht sie wieder, weil sie erst mit zwölf blind geworden ist. Die Bilder, die sie zwölf Jahre gesehen hat, sind nicht mit ihr blind geworden. Sie haben sich jetzt nur von den zu schwarzer Leere gewor- denen Gassen und Zimmern in die Träume der blinden Frau zurückgezogen. Jetzt kamen wieder die Geräusche, als ob ein Lastwagen hinter der Wand stünde und sich immer wie- der vorwärtsbewegte, um durch die Wand zu fahren. Nach jedem Geräusch rieselten Staub und verfaultes Reisig von der alten Zimmerdecke, wo die Deckenbalken mit der Zeit morsch geworden und auseinandergegangen waren.
Ich ging hinunter in die Küche.“
Man lernt vieles aus diesem Buch mit seiner verschwenderischen Fülle … Vor allem aber ist dies ein Buch, das die urwüchsige Kraft des Erzählens feiert.« (NZZ. Roman Bucheli)