26. Mai 2011

Tanz als Körperpolitik
Für die Inszenierung von »47 Items« hat Paul Wenninger eine imaginäre Grenze gezogen, die zwischen den Tänzerinnen auf der einen Seite und den zu inszenierenden Objekten auf der anderen Seite verläuft. Imaginär ist diese Grenze deshalb, weil sie weniger räumlich oder zeitlich zu denken ist sondern als Rollenaufteilung. Denn die Geschichte, auf die sich die Inszenierung stützt, wird allein von Objekten und deren Arrangements erzählt; den Tänzerinnen fällt die Rolle zu, diese Objekte stets aufs Neue in Position zu bringen. Die körpersprachliche Leistung der Tänzerinnen konzentriert sich auf eine Figur von Arbeit, die es gewissermaßen im Akkord zu erbringen gilt. Ihre Aufgabe besteht darin, aus Regalen, die mit Supermarktprodukten gefüllt sind, die entsprechenden Waren zu holen und je aufs Neue in eine sich verändernde Choreographie aus Objektinszenierungen einzufügen, um sie für das nächste Arrangement wieder in die Regale zu räumen oder neu zu positionieren. Was dabei entsteht, sind szenische Bilder aus Warenarrangements, die auf die zugrunde liegende Geschichte und die räumlichen Koordinaten der Erzählung schließen lassen. Die Protagonisten der Erzählung selbst werden nur über den Verweis durch die Objekte evoziert.  Sie treten nur als Abwesende in Erscheinung, um auch hier dem Imaginären Raum zu schaffen. Unterstützt wird dieses Pendeln zwischen narrativem Andeuten und Evozieren des Imaginären durch ein Soundenvironment, das die Geschichte manchmal narrativ begleitet und sich dann wieder in die Abstraktion von Klang und Komposition allein zurückzieht. So entsteht eine Rezeption, die den Entstehungs- und Veränderungsprozess der szenischen Bilder begleitet, um je aufs Neue den narrativen Subtext zu erahnen und imaginär zu ergänzen, was bewusst der Vorstellung vorbehalten bleiben soll.

Was Wenninger damit leistet, ist eine Arbeit am Tanz, dem der Körper entzogen wird, um Raum zu schaffen für einen Tanz der Requisiten. Deren Sprachlichkeit nährt sich von der Arbeit der Tänzerinnen, die diese in Szene setzen. Die Tatsache, dass die verschiedenen Waren in szenische Bilder eingetragen werden, die mit der Funktion oder dem vermeintlichen Inhalt derselbigen nichts oder nur punktuell zu tun haben, erklärt die Requisiten selbst zu Objekten des Tauschwerts. Was sie trotz ihrer Verschiedenartigkeit gemeinsam haben, ist ihre Austauschbarkeit. Diese Austauschbarkeit gilt für die Waren genauso wie für die Tänzerinnen, die hier jenseits individueller  Qualitäten und Persönlichkeiten zur Arbeit am Imaginären herangezogen werden. So wie sie unaufhörlich ihre Positionen ändern, so ändern sie ihre Rollen für das zu arrangierende Bild. Was von deren Körpersprachlichkeit bleibt, ist eine Variable. In dieser Inszenierung von Wenninger sind sie so austauschbar wie die Waren. Und hier beginnt die imaginäre Grenze zwischen beiden Fragen zu stellen – Fragen, die die Rolle des zeitgenössischen Tanzes genauso betreffen wie die Mechanismen einer alltagskulturellen Warenförmigkeit, die hier auf die Vorstellung von (Tanz als) Körperpolitik durchschlägt.

Wenninger zieht die Konsequenzen aus einer Kultur, für die die Variable und die Austauschbarkeit die tragenden Rollen übernommen haben. Vor dem Hintergrund, dass der Tauschwert die konstitutive Figur für den Markt und die damit verbundene Ökonomie darstellt, wird die Frage nach dem Verhältnis zwischen Tanz und Ökonomie zur zentralen Frage in Wenningers Arbeit. Statt den Tanz als körperpolitische Gegenfigur zur Ästhetik des Tauschwerts zu inszenieren, übersetzt Wenninger die Austauschbarkeit selbst in Tanz. Aus dieser Austauschbarkeit zieht er die Konsequenz für ein Bild vom Körper, der sich nicht der Logik der Austauschbarkeit entzieht oder sich gegen diese stellt, sondern ihr folgt. In diesem Sinne stellt sich ob der Inszenierung des Tanzes, der hier als pure Arbeit repräsentiert wird, weniger die Frage, was diese Körper tänzerisch leisten, sondern vielmehr was sie nicht leisten und worauf sie verzichten. Sie verzichten auf Ausdruck, um im Vorenthalten des Ausdrucks diesen selbst nur mehr als imaginäre Figur darzustellen. Was vom Ausdruck übrig bleibt, ist der Eindruck von einer Leistung, die hier jenseits eines individualisierten Körper- und Subjektbegriffs erbracht wird: Tanz entlang der Koordinaten von Arbeit und Sportlichkeit, die ihrerseits eine spezifische Form der Körperpolitik im Rahmen der Ökonomie und Austauschbarkeit markieren. Das Bühnenbild, das mit seiner Lagerung von Regalreihen dem Bildnis eines Supermarkts folgt, unterstreicht diesen Kontext eines ausdruckslosen Ausdrucks  zusätzlich.

Was vom Tanz und dessen Ausdrucksfähigkeit und Sprachlichkeit bleibt, ist in dieser Inszenierung das Publikum. Das Publikum hat die Rolle und Aufgabe, die ins Imaginäre verschobene Figur des Tanzes wahrzunehmen, indem es sich je vorstellt, was nicht gezeigt und vorenthalten wird. Die Erfahrungen und Erlebnisse, die man als Publikum hier mit Tanz machen und haben kann, rühren dann von der Erfahrungen und Erlebnissen her, die man mit Tanz gemacht und gehabt hat – eine gewissermaßen retroaktive Wahrnehmung. Das Sichtbare und die Projektion auf das Sichtbare werden hier als differente Figuren aufgerufen und zugleich miteinander verknüpft.

Wenninger berührt damit eine Geschichte des Minimalismus, die sich aber im Unterschied zum historischen Pendant in den 60er Jahren weniger um die Auslotung der formalen Reduktionen des Ausdrucks sorgt als um die Inszenierung eines Körpers, dessen Ausdrucksfähigkeit und Sprachlichkeit schlicht nicht mehr gefragt sind.  Waren es in seinen früheren Arbeiten wie »tubed« (2008) noch die Sollbruchstellen, die in den Anpassungsversuchen zwischen Objekten und Körpern Thema waren, so reduziert Wenninger in dieser Inszenierung Tanz und Körper auf eine Dienstleistung. Was dann erscheint, ist das tänzerische Porträt einer Dienstleistungsgesellschaft, die hier aufgefordert wird, das Individuelle und den Ausdruck allein als imaginäre Figuren zu erfahren – als autosuggestive Projektionen, die es genauso selbst zu verantworten gilt wie die Sorge um die eigene Gesundheit und das Überleben.

Die Arbeit am Tanz vermittelt sich hier als Tanz zu einem Begriff von Arbeit. Im Unterschied zu den historischen Versuchen die Arbeit tänzerisch darzustellen als Mechanik und Kontrolle, als Gleichklang und Synchronisierung von Körperlichkeit, bedient sich Wenninger der Leistungsbereitschaft und Sportlichkeit als körperpolitischem Paradigma der Dienstleistungsgesellschaft. Paradox daran erscheint, dass das Individuum dazu aufgefordert wird, je individuell für diese Sportlichkeit und Leistungsbereitschaft zu sorgen, um sie dann als austauschbare Größen zur Verfügung zu stellen.  Das körperpolitische Prinzip dahinter erklärt damit die Bedingungen des Körpers und Individuums zu einer Agenda des Privaten, dessen Rolle – wenn überhaupt – nur unter den Koordinaten des Imaginären erscheinen darf. Die Grenze dieses Imaginären zu thematisieren und zu verhandeln, ist körperpolitische Frage, die sich dem Tanz gegenwärtig stellt. Und geschieht dies, wie in der Inszenierung von Wenninger, dann erreicht der Tanz – so paradox dies klingen mag – eine Gegenwärtigkeit auf der Basis dessen, was ihm versagt bleibt.

 

Andreas Spiegl
Vizerektor Mag.
Akademie der bildenden Künste Wien

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