1. September 2009
Schallerhof in der Vill

Einer Erzählung in „Die Ausgewanderten“ stellt W.G. Sebald ein Zitat von Hölderlin in abgeänderter Form voran: „Zerstöret das Letzte / Die Erinnerung nicht“. Das Zitat wird bei Sebald nicht angegeben, aber die beiden Verse gehen auf Hölderlins „Elegie“ zurück, wo es – und zwar in Fragestellung – heißt: „Danken möcht’ ich, aber wofür? Verzehret das Lezte / Selbst die Erinnerung nicht?“
Die Verse Sebalds stehen in ihrem Bezug zu Hölderlin leitmotivisch den „Kulturtagen Lana 2009“ voran und tragen gerade in der eigentümlichen inneren Spannung, in der Erinnerung bei Sebald und bei Hölderlin unterschiedlich aufgerufen und gedeutet wird, die drei Tage des literarischen Kleinfestivals in Lana.

Erinnerung erhält demnach unterschiedliche Erfahrungs- und Erkenntnismöglichkeiten. In einem fast gegensätzlichen Anklang an das, was dem Leidenden widerfährt, scheinen sich die Zitate Sebalds und Hölderlins zueinander zu verhalten, könnten sich gar wie Frage und Antwort, wie Rede und Gegenrede bedingen. Bei Hölderlin fällt der Schmerz als Letztes, was bleibt, auch die Erinnerung, er sengt sie oder den Erinnernden nieder. Sebald kehrt geradezu mahnend die Erinnerung als das Letzte, was bleibt, hervor, und man könnte meinen, sie bliebe übrig für die Rückgabe an das (schmerzlich) Erfahrene und an die, die Schmerz unwiederbringlich erfahren haben. Nun ist aber das, was sich zwischen den beiden Momenten der Sinngebung bei Hölderlin und bei Sebald ereignet, möglicherweise nicht nur eine Art Wende aus dem alles zerstörenden Schmerz in den sinnstiftenden Akt des Gedenkens; vielmehr ist das, was Sebald gerade in ungesagter Anlehnung an Hölderlin evoziert, was er also durch das fingierte Zitat ohne genaue Angaben und in geheimer Rückkoppelung an den Nichtgenannten hervorruft, selbst eine Art von Gedenken, die Rückerstattung ebenso wie Aneignung, Revision und Deutung ist und in dem Moment poetisch verfremdet und verschleiert, wessen erinnert wird oder wie Erinnerung stattfindet. Dieses Moment, in dem sich die Erinnerung Sebalds „fremder“ Worte und Geschichten bemächtigt, ist nicht allein Teil seiner Poetik, sondern wesentlicher Teil der Erinnerung allgemein. „Es geht nicht ohne Lüge, besser gesagt: ohne innere Rekonstruktion des Vergangenen,“ sagt Georges-Arthur Goldschmidt.

Erinnerung ist also immer auch Erfindung, in unterschiedlichen Maßen hat sie Teil am Faktischen und an der Fiktion, stellt sich dem entsprechend in größere oder in kleinere Nähen zur Realität. Und ein Schreiben, das literarisch, aber auch ein solches, das wissenschaftlich Geschichte reflektiert, folgt, indem es dem Denken in Sprache bzw. dem Denken der Sprache folgt, dem Versuch, Erinnerung und Wirklichkeit darzustellen. In dem ästhetischen oder rhetorischen Maß, in dem Erinnerung und Wirklichkeit dargestellt werden, werden sie auch hergestellt; wer Erinnerung darstellt, schafft – wie ambivalent verschränkt und durchwirkt auch immer – Wirklichkeiten, verwandelt Erfahrung in Sinn, setzt Ereignisse allein durch die Wortgestaltung oder die Ungleichzeitigkeit in eine Art von Fiktion, um in ein Verhältnis zur Faktizität zu treten und die Bedingtheit des Vergessens dessen, was und wie etwas war, und des Erinnerns an das, was durch ein Schreiben sei, zu erproben.

Die drei Kulturtage in Lana stehen dem verfremdeten Zitat Sebalds folgend unter dem Thema der Erinnerung und des Gedächtnisses. Sie versammeln 19 Dichter, Autoren und Wissenschaftler, deren künstlerisches und wissenschaftliches Werk ununterbrochene Erinnerungsarbeit ist.

 

24. Literaturtage Lana
1. – 3. September 2009
„Zerstöret das Letzte / die Erinnerung nicht“

Dienstag, 1. September 2009, Eröffnung
19.00 Uhr
Erstpräsentation des Romans „Atemschaukel“ (Hanser Verlag, 2009) von Herta Müller
Gespräch zwischen Herta Müller, Ernest Wichner und Norbert Wehr.
Foto- und Tondokumente begleiten die Veranstaltung

Mittwoch, 2. September 2009
16.00 Uhr

„Erinnerung. Chemie. Ein Eingeweide…“
In memoriam  Wolfgang Hilbig. Hommage an den Dichter mit Jürgen Hosemann, Marcel Beyer und Lutz Seiler
18.00 Uhr
Thomas Stangl: „Was kommt“ (Droschl Verlag 2009)
Kathrin Schmidt: „Du stirbst nicht“ (Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2009)
20.00 Uhr
Marcel Beyer: „Kaltenburg“ (Suhrkamp Verlag, 2008)
Lutz Seiler: „Die Zeitwaage“ (Suhrkamp Verlag, 2009)
Einführungen und Moderationen: Christine Vescoli und Theresia Prammer

Donnerstag, 3. September 2009
„Ein ungeheuerer Appell“
In memoriam W.G. Sebald
15.00 Uhr
Walter Busch „Schmerzausdruck und Schmerzgedächtnis bei W.G. Sebald“
Elmar Locher “ W.G. Sebald oder „Die Poetik der Heimsuchung“
Iain Galbraith: “ Von einem dunklen Ufer zum andern“: Zum Gedanken der Synchronizität bei Michael Hamburger und W. G. Sebald “
18.00 Uhr
Film „W.G. Sebald. Der Ausgewanderte“ von Thomas Honickel. In Anwesenheit des Filmemachers
20.00 Uhr
Raoul Schrott liest W.G. Sebald
21.00 Uhr
Hanna Krall liest aus ihrem Gesamtwerk; Einführung, Übersetzung und Gespräch: Renate Schmidgall

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