2000 erschien der Essay „Die exilierte Sprache“ von Imre Kertész. Darin bezeugt der spätere Nobelpreisträger sein unerbittliches Nachdenken über das Überleben nach dem Holocaust und über die Bedeutung des Exils für ein Weiterleben der Ausgewanderten oder Vertriebenen. Das Denken, das aus solchen Erfahrungen entsteht, bedingt ein skrupulöses Sprechen; ein Sprechen, das misstrauisch beäugt, was Sprache tut und wie sie als gesellschaftliches Instrument Sinn, Unsinn und Irrsinn bestimmt, wie gleichmütig sie Zugehörigkeiten und Ausgeschlossenheiten zuweist. Ein solches aus der gehörigen Sprache ausgewanderte Sprechen entzieht sich einer verhängten Herrschaft von Sprache; es lässt erst wieder entstehen, was „wundgerecht“ Sprache ist.
Der Titel von Kertész steht verborgen Pate für die 27. Literaturtage von Lana. Ebenso liegt ihnen der Titel der Erzählungen „Die Ausgewanderten“ von W.G. Sebald zugrunde, vier meisterhafte Exilgeschichten, die von vertriebenen Juden, von unbeheimateten, unzugehörigen Menschen handeln.
Mit dieser verborgenen Verschränkung der geborgten Titel folgt das Festival jener Spur, wo die Erfahrung von Exil und Vertreibung zur außerordentlichen Literatur wird und wo sie sich mit dem Denken über Sprache verbindet. Zu den großartigsten Beispielen zählen die Romane von Georges-Arthur Goldschmidt, der als Kind aus Nazideutschland vertrieben wurde und in Frankreich Rettung fand. Zu rarer Exilliteratur zählt auch der unendlich traurige, kaum wahrgenommene Roman „Die Gehetzten“ von Michel Matveev, ein verstörender Klagegesang zur Geschichte einer Flucht zur Zeit der russischen Pogrome von 1919. Oder es gibt die Bücher des in Kanada lebenden jüdischen Serben David Albahari, die wunderbar skurril und intelligent von der Absurdität undurchschaubarer Geschehnisse und innerer Emigration erzählen.
Wenn sich Sprache nicht mehr eignet zur Behauptung eines Besitzes und eines Selbstbewusstseins, wenn es einem wie Georges-Arthur Goldschmidt die Muttersprache lange verschlägt, weil sie auch die Sprache jener ist, die vielen seiner Familie den Tod gebracht und ihn aus seiner Heimat vertrieben hatten, dann wird offenkundig, dass Sprache auch ein bedrohliches Denken verkörpert und nicht mehr Bewusstseinwelt für alle ist. „(…) eine Sprache, je nun, ohne Ich und ohne Du, lauter Er, lauter Es, verstehst du, lauter Sie, und nichts als das“, schreibt der Exilant Paul Celan.
Ein Schreiben, dem die Macht der Sprache so spürbar wird, dass „sie mich ihren Erfordernissen unterwarf“ (Albahari), befördert konsequent ein Sprachdenken, das keine ungebrochene Beziehung zur Muttersprache unterhält. Es kommt über Umwege der Befremdung zu ihr. Auch über den Umweg der Fremdsprache. Doch: „Die eigene Sprache vor die Augen einer anderen zu halten führt zu einem durch und durch beglaubigten Verhältnis, zu einer unangestrengten Liebe“, schreibt Herta Müller. Über die Verwandlungen der Welt, die unter dem Blick mehrerer Sprachen geschehen, verwandelt sich, relativierend, die Einsicht der Muttersprache.
Kaum einer reflektiert so leidenschaftlich und intensiv die Verschiedenheiten der Sprachen und ihre Zwischenräumen wie G.-A. Goldschmidt. In seiner Spur folgen Marco Baschera, Joachim Helfer und Theresia Prammer dem Thema der Mehrsprachigkeit als Lebenspraxis, Denkform und poetologisches Konzept, und das in einem zweisprachigen Land, in dem die Selbstverständlichkeit des zweisprachigen Lebens nicht immer sorglos ist.
„Mir ist, als wäre ich geschrumpft, seitdem ich meine Sprache nicht mehr spreche“, schreibt Albahari. In diesem Moment, wo sie für den Sprecher nicht mehr einhergehen kann mit einem Land, das Heimat ist, sondern nur Menschen hat, die sie sprechen, in diesem Moment hat die Muttersprache die Bedeutung der Selbstvergewisserung. Das gilt für Emigranten nicht weniger wie für Angehörige von Minderheiten. Florjan Lipus, Vertreter der slowenischen Minderheit in Kärnten, erzählt in „Boštjans Flug“ voll karger Wehmut und gebrochener Melodik von seiner Kindheit, die unauslöschlich von Verlust geprägt wird, nachdem die Mutter verschleppt und im KZ gestorben war, während der Vater in der deutschen Wehrmacht diente.
Wie vertrackt sich Leben und Dichtung in einem verklausuliert exilierten Sprechen nach der Erfahrung von Lager einerseits und in ethischen Fragen andererseits niederlassen, zeigt der Fall des Dichters Oskar Pastior, der als 17jähriger für fünf Jahre in ein ukrainisches Lager verschleppt worden war. Vier Jahre nach seinem Tod 2006 wurde eine Erklärung bekannt, in der er sich verpflichtete, Informationen an den rumänischen Geheimdienst zu liefern. Mit Ernest Wichner, Oswald Egger und Ulf Stolterfoht greifen die Literaturtage Lana eine Lektüre Pastiors auf, die es vor historischen Fakten und moralischen Fragen tunlichst meidet, dass das Werk Pastiors hinter sein Leben trete.
31. Literaturtage Lana
20. – 23. August 2012
„Ausgewandertes Sprechen“
Montag, 20. August 2012
Egon Ammann: „Ich bin, was mir geschieht.“ Ein Freundes-Wort zu Georges-Arthur Goldschmidt
Georges-Arthur Goldschmidt: „Ein Wiederkommen“ (S. Fischer Verlag 2012)
Gespräch zwischen Georges-Arthur Goldschmidt und Egon Ammann
Dienstag, 21. August 2012
19.00 Uhr
Rudolf v. Bitter: Michel Matveev: Die Gehetzten (Aus dem Französischen von Rudolf v. Ritter; Weidle Verlag 2010)
20.30 Uhr
David Albahari: „Der Bruder“ (aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann; Schöffling & Co. 2012)
Uhrzeit gelöscht
Gespräch mit David Albahari und Mirjana und Klaus Wittmann (Moderation: Klaus Hartig und Christine Vescoli)
Mittwoch, 22. August 2012
17.30 Uhr
„Die Augen der Sprache“
Vortrags- und Diskussionsrunde zur Mehrsprachigkeit als Sprachpraxis und Denkform
Georges-Arthur Goldschmidt: „Der Sprache Augen geben“
Joachim Helfer: „Wovon man nicht sprechen kann“
Marco Baschera: „Was heißt, zwischen den Sprachen leben? Überlegungen zu Georges-Arthur Goldschmidts mehrsprachigem Denken“
Gespräch: Georges-Arthur Goldschmidt, Joachim Helfer, Marco Baschera (Moderation: Klaus Hartig und Christine Vescoli)
20.30 Uhr
Florjan Lipuš: Boštjans Flug (aus dem Slowenischen von Johann Strutz; Suhrkamp 2012)
Einführung und Übersetzung: Johann Strutz
Donnerstag, 23. August 2012
19.00 Uhr
Theresia Prammer: „Ich habe nur eine Sprache, und das ist nicht meine.“ Zur Ungehörigkeit poetischer Idiome
20.00 Uhr
„Wer nicht spielt, weiß nichts vom Widerstand“
Oskar Pastior – Der Dichter und die Akte
Ernest Wichner: „Das Würde des Worts – Oskar Pastiors konditionale Poetik“
Oswald Egger und Ulf Stolterfoht lesen kommentiert Oskar Pastior
Gespräch: Ernest Wichner, Georges-Arthur Goldschmidt, Oswald Egger und Ulf Stolterfoht (Moderation: Theresia Prammer und Christine Vescoli)
Kuratiert von Christine Vescoli