Erinnerung vergisst, will vergessen und ist wählerisch. Sie verschiebt, überlagert, überschreibt und überblendet. Sie verändert, verzerrt und verformt, sie bejubelt und sie schlägt kaputt, sie verhakt sich und verebbt, entschlüpft und verdeckt. Sie hüpft und stürzt ein, taucht auf und bringt zum Einsturz, manchmal, hören wir jüngst, selbst Denkmäler. In dem flimmernden Bewusstseinsakt, der Erinnerung genannt wird, lauert stets der Zweifel an der eigenen Wahrheit. Was sie erzählt, ist nicht allein Geschichte, und wie sie es erzählt, ist Teil des Erzählten.
Vergangenheit, auf die Erinnerung blickt, ist auch nie ein Ganzes, wie das klassische Verständnis des Gedächtnisses als Speicher oder Archiv angenommen hat. Sie ist keine stabile Größe, auf die wir ungebrochen Zugriff hätten. Vielmehr stellt sich Vergangenheit in Brüchen und Fragmenten her, die in sich wieder Lücken und blinde Flecken haben und nicht gestellte Fragen an die Erinnerung enthalten.
Worauf also verlassen wir uns, wenn wir fragen, was war, und wenn wir es erzählen? An welchem Punkt beginnt erfahrene Geschichte, wenn wir von früher erzählen und „damals“ sagen, „einmal“, „als“ und „später“? Es geht ja um Erfahrung, die wir in Sinn verwandeln wollen, wenn wir erzählend in die Vergangenheit schauen und sie in die Gegenwart herein holen. Woraus entsteht dann erinnerte Vergangenheit? Wie verwandelt sich Gedächtnis in ein Erzählen und in Literatur?
Mit der Gedächtniskultur, der die Literaturtage Lana seit Jahren und jenseits der kulturkritischen Klage, dass das Gedächtnis schwinde, folgen, gehen wir davon aus, dass in jede Erinnerung die Erfahrung eines Jetzt und eines Damals ineinanderfließen, dass wir also Momente vom einen in die des anderen tragen und auf Gewesenes nicht zurückgreifen, als ob es irgendwo eingelagert und gespeichert wäre und uns als konserviertes, passives Objekt zur Verfügung stünde. Wenn wir es hervorholen, tun wir es mit dem, was uns jetzt an Wissen, Wahrnehmung und Erleben zur Verfügung steht, und wir tun es mit den Fragen, die uns jetzt bewegen und in diese oder jene Vergangenheit zurück blicken lassen.
Wir fragen uns, wenn wir erinnernd erzählen, was sich mit uns ereignet hat, als dies und jenes passiert ist, und wollen verstehen, was das, was damals oder einmal und noch einmal geschah, mit uns getan hat und immer noch tut. Indem wir es erzählen, stellen wir das Erlebte als Erfahrung dar und die Erfahrung möglicherweise als neues Erlebnis.
Damit wird sehr komplex, wohin und worin wir uns im Erzählen bewegen. Und was dabei zum Einsatz kommt, wandelt sich manchmal unter der Hand, sodass wir meinen, erinnernd auf Schollen zu gehen. Es bewegt sich wie der Gegenstand, über den wir erzählen wollen, während wir austarieren, womit wir spielen. Wir spielen gewandt. Wir spielen gekonnt. Denn die Möglichkeiten, die wir dazu haben, sind reich. Wir spielen auf vielen Tasten, wenn wir für die Ereignisse einen Anfang suchen, eine Folge und den Zusammenhang. Wir rufen etwa unser Empfinden auf, ein emotionales, ein ethisches, ein imaginatives. Wir setzen Wahrnehmung ein, in der wir Welt und Wissen aufnehmen. Wir benutzen unser Verstehen. Verwenden unsere Kenntnis. Kennen deren Griffe, die uns an die Leine nehmen und vergangene Wirklichkeit am Faktischen und Methodischen bemessen, während Erfahrung und Wahrnehmung ins Offene gehen oder dahin, was wir die Innenseite oder Innensicht der Wirklichkeit nennen. Wir greifen auf Erinnerung zurück. Auf unsere und die anderer. Wir bedienen uns der Medien — der Sprache, der Schrift, der Bilder, des Körpers —, durch die Erinnerung mitteilbar wird und die Differenz von Erinnerung und Gedächtnis auslotet. So verknüpfen wir Geschichte und Gedächtnis.
Literarisches Erzählen, um das es uns geht, geht ein besonderes Verhältnis zu Geschichte ein. Es verringert den Abstand zwischen Gegenwart und Vergangenheit auf das Kürzeste und zoomt, was war, auf eine Weise heran, die sich wenig um Distanz und zeitliche Ordnung schert. Vielmehr zieht sie das Geschehen durch Sprache heran und stellt es weniger begründend und erklärend dar, sondern stellt es als Erlebtes wieder her, sodass es eine gegenwärtige Bedeutung erfährt. Was damit ins Spiel kommt, ist die Kraft der Phantasie, der Einfühlung und Erfahrung, die sich dem Persönlichen und Individuellen verdankt und die faktischen Ereignisse und Handlungsabläufe von innen aus beleuchtet. Ihre Berührung macht verbindlich und ihr Zeugnis verleiht den Menschen, die Schrecken und Glück erfahren haben, Würde. Literarisches Erzählen überführt individuelle Erfahrung in einen ästhetischen und ethischen Sinn, der wiederum Geschichte ergänzt und deutet.
Die Literaturtage Lana 2020 gehen erzählter Geschichte nach und nehmen auch Erinnerung auf, die sich auf Zeugenschaft beruft. Dabei ist die Zeugin eine ambivalente Figur, die mit ihrer Erinnerung eine besondere Glaubwürdigkeit des Erinnerten beansprucht. Dafür wollen wir ihr Autorität und Authentizität zusprechen. Aber selbst wo sie berichtet, was sie mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört, am eigenen Leib erfahren hat und gewissermaßen verkörperte Vergangenheit ist, erfindet, dichtet und inszeniert auch sie. Sie tut das in aller Subjektivität, die uns daran erinnert, dass es keine einfache Wahrheit gibt. Und sie erinnert uns daran, dass im Erzählen Faktum und Fiktion Wahrheit beanspruchen und in die literarische Verwandlung als Sinn eingehen.
Nicht zuletzt tut die Zeugin das, was Literatur tut, wenn sie subjektiver Wahrnehmung und Wahrheit zu ihrem eigenen Recht verhilft, nämlich eine einmalige Existenz vor dem Vergessen und dem Verschwinden zu bewahren und sie vom kommunikativen in ein kulturelles Gedächtnis zu retten. Wir freuen uns auf die Literaturtage 2020, die in Zeiten nach und von Corona zwar verkürzt sind, aber trotzdem stattfinden können. Wir freuen uns, an Literatur zu erinnern und und uns von Literatur erinnern zu lassen.
Die 35. Literaturtage Lana gehen seit Jahren der Gedächtniskultur nach und knüpfen daran Fragen des literarischen Erzählens. Wir tun das Swetlana Alexijewitsch, Miron Bialoszewski, Esther Kinsky, Géraldine Schwarz, Magdalena Tulli, Cécile Wajsbrot und Anne Weber.
35. Literaturtage Lana
24. – 26. August 2020
„Erinnerungssturz. Bezeugte und erzählte Geschichte“
Montag, 24. August 2020
20.00 Uhr
Begrüßung mit LR Philipp Achammer, BM Dr. Harald Stauder und Präsident Prof. Elmar Locher
Swetlana Alexijewitsch:„Die letzten Zeugen“. Hanser Berlin 2014 (Video-Übertragung)
Einführung: Martin Pollack
Gespräch: Ganna-Maria Braungardt
Dienstag, 25. August 2020
18.00 Uhr
Anne Weber: „Ahnen. Ein Zeitreisetagebuch“ (Luchterhand 2015)
Einführung und Gespräch: Sabine Mayr
19.30 Uhr
Cécile Wajsbrot: „Zerstörung“ (Wallstein Verlag 2020)
Einführung und Gespräch: Anne Weber
20.30 Uhr
Géraldine Schwarz: „Die Gedächtnislosen. Erinnerungen einer Europäerin“ (Secession Verlag für Literatur 2018)
Einführung und Gespräch: Klaus Hartig
Mittwoch, 26. August 2020
18.00 Uhr
Esther Kinsky: „Schiefern“ (Suhrkamp 2020)
Einführung und Gespräch: Christine Vescoli
19.00 Uhr
Miron Białoszewski: „Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand“ (Aus dem Polnischen und mit einem Nachwort von Esther Kinksy. Suhrkamp 2019)
Einführung und Lesung: Esther Kinsky
20.30 Uhr
Magdalena Tulli: „Träume und Steine“
Übersetzung und Gespräch: Esther Kinsky