Mit Daniela Strigl, die das Nachwort zum Roman geschrieben hat
Es ist das Jahr 1945. Eine dumpfe schwere Dunstglocke liegt über der Stadt Donaublau, wo die schwangere Berta die Rückkehr ihres Verlobten von der Front erwartet. Doch statt Rudolf tritt sein Freund Wilhelm ins Zimmer und überbringt Berta die Nachricht von dessen Tod, die sie nur mit einem »So, so« quittiert. Sie heiratet stattdessen den Kriegsheimkehrer, einen »würdigen Repräsentanten seiner Nation«, Chauffeur und »Geh-her-da«, und bekommt mit ihm ein zweites Kind, eifersüchtig beäugt von ihrer Freundin Wilhelmine. Aber das Leben erscheint Berta zunehmend wie ein böser Traum, die Schwerkraft der Verhältnisse zwingt alle zu Boden, besonders die kleinen und ganz kleinen Leute, versehrt und wortarm, bis Berta keinen Ausweg mehr sieht und ihre Kinder im verzweifelten Versuch, sie dem Zugriff der Umwelt zu entziehen, im Schlaf erstickt. Erst in einer psychiatrischen Anstalt findet sie Schutz vor der »Wunde Leben«.
»Marianne Fritz war ein Genie«, schrieb Marlene Streeruwitz nach dem Tod der österreichischen Schriftstellerin. In ihrem preisgekrönten Debütroman von 1978 blickt sie voller Mitleid und Humor auf den stillen Lächler Wilhelm, die berechnende Wilhelmine – und auf Berta, eine kleinbürgerliche Medea, die mit leiser, zerstörerischer Kraft gegen die Enge und die zernichtende Gewalt der Nachkriegsordnung aufbegehrt. Ein waghalsiges, virtuoses, bestürzendes Buch.
»Es ist ein singuläres Werk, vor dem man nur stehen kann wie ein gläubiger Muslim vor der Kaaba.«
Elfriede Jelinek
Marianne Fritz:
„Die Schwerkraft der Verhältnisse“
Roman
Mit einem Nachwort von Daniela Strigl
(Suhrkamp Verlag 2023)
WILHELMINE IST NICHT BERTA
Wilhelmine erinnerte sich mit schmerzlicher Genauigkeit an die Ereignisse des Jahres 1945. Die Kette mit der kleinen Madonna legte Wilhelm nicht ihr, sondern Berta um den Hals. Und das, obwohl Berta, und nicht sie, Wilhelmine, die nicht mehr Jungfräuliche war, wofür Bertas Bauch ein eindeutiges Indiz bildete. Bei allen freundschaftlichen Banden, die sie mit Berta verknüpften: Berta paßte vielleicht gerade noch zu Rudolf, sicherlich aber niemals zu Wilhelm.
»Rudolf ist so weich und so sanft. Er hat eine etwas grüblerische Natur. Er braucht eine feste, zupackende Hand; einen Menschen, der mit beiden Beinen im Leben steht. Er ist ein Träumer; ein Phantast. Rudolf muß geführt werden. Er braucht einen Menschen, der weiß, was er will. Berta, er paßt einfach nicht zu dir.« Hatte Wilhelmine einmal so zu ihrer Freundin gesprochen, als diese ihr eröffnete, Rudolf gefiele ihr schon sehr?
»Berta! Du Unglücksrabe! Kannst du dir keinen besseren Zeitpunkt zum Kindermachen aussuchen als diesen?! Weißt du, ob Rudolf überhaupt von der Front zurückkehrt?! Noch dazu ausgerechnet Rudolf! Der kann ja nicht einmal ein Huhn abschlachten, geschweige denn Kinder großziehen! Der arme Kerl, die friedlichste Seele, die man sich vorzustellen vermag, er war ja nie ein Draufgänger, steht jetzt, wer weiß, an der Front, und dir fällt nichts Besseres ein als Kinderkriegen! Berta! Das ist Wahnsinn!«