Poetische Nachbarschaften
Es kommt, wenn von der Lyrik und ihrer Vielschichtigkeit die Rede ist, erstaunlich schnell eine Metaphorik ins Spiel, die Landschaftlichkeit und ihre Kartografie bemüht: So wird Lyrik in ihren Bezügen in die Anordnung von Landschaften und „Atlanten“ versehen, als Konzentration der sprachlichen „Nachbarschaften“ gesehen, als literarische Ortsnahme oder Ortkunde.
Nun ist diese Versuchanordnung durch geografische Bilder, in der eine gegenwärtige Lyriksituation immer wieder vermessen wird, ja durchaus naheliegend. Gerade das Bild der Nachbarschaften und Grenzen beschreibt treffend jenes tatsächliche Übertreten in fremde Gebiete und Sprachen, das die gegenwärtige Lyrik (wie seit Langem nicht mehr) betreibt und antreibt: In das Gedicht, dieses konzentrierteste Textbeziehungsphänomen, mischen sich Einsprengsel fremder Sprachen, Elemente aus den Dialekten, Zitate wie „nie verstummende Zikaden“ (O. Mandestam), Exzerpte und Extrakte, Spurenelemente aus vergangenem oder rotwelschem, alltäglichem oder literarischem Sprechen, Fachsprachen und Jargons. Eine solche Inventur sprachlicher Möglichkeiten, die das Gedicht zu Recht zum „Gedächtnis der Sprache“ (Jacques Roubaud) macht, findet in der Tat immer wieder durch Versuche der bildhaften Verortung ihre Ordnung.
So zutreffend also von den Landschaften im Gedicht selbst oft gesprochen wird, so sehr mögen mit der zweitägigen Veranstaltung im April Landschaften der Lyrik konkret beleuchtet werden. Es sei demnach von den linguistischen Nachbarschaften gesprochen, von den Poesien und Poetologien der unterschiedlichen Länder, von den gegenwärtigen Entwicklungen des Gedichts in den unterschiedlichen Kulturen und Sprachen, aber auch von der Leistung, die dabei der Übersetzung zukommt.
Im Zentrum steht dabei der Blick in den Norden Europas, der sich mit den Übersetzern Klaus Anders und Iain Galbraith, der Übersetzerin und Verlegerin Margitt Lehbert und dem norwegischen Dichter Eirik Loden die schottische und norwegische Lyrik vornimmt und diese in Lana präsentiert.
Mit der ausgezeichneten Neuübersetzung des Gedichtsbandes „Grasblätter“ von Walt Whitman, die Jürgen Brocan geleistet hat, nimmt die Veranstaltung die Rezeption eines Klassikers auf, der die Moderne Amerikas wesentlich fundiert hat und bis heute auf viele Dichtung wirkt.
Dass die Grenzen zwischen Übersetzungspraxis und poetischer Praxis verschwimmen, weist nicht allein auf ein Phänomen des gegenwärtigen Lyrikbetriebs hin, der damit auch schon sehr umtriebig umgeht. Vielmehr fußt die Erscheinung auf einer langen Tradition der Übersetzer-Dichter und Nachdichter, die ihre literarische Arbeit gerade über die poetische Übersetzung definieren. Diese Spur nimmt die Veranstaltung auf, indem sie die Übersetzer Klaus Anders, Iain Galbraith und Jürgen Brocan als Dichter präsentiert.
Iain Galbraith (Hrg.): „Beredter Norden“, Edition Rugerup, 2011
Mit der viersprachigen ‚beredten‘ Retrospektive gilt es, eine im deutschen Sprachraum ungewohnte und ergiebige Perspektive auf die Dichtung der britischen Inseln freizulegen. Beredter Norden bietet 125 Gedichte von über 50 schottischen Dichtern aus den Jahren 1900 bis 2010. Hier findet man die wichtigsten schottisch-englischsprachigen Dichter, von Edwin Muir bis Edwin Morgan, von Douglas Dunn bis Carol Ann Duffy. Das kleine Schottland hat drei moderne literarische Sprachen, so gesellen sich gälische Dichter wie der große Sorley MacLean oder jüngere Gälen wie der 1972 geborene Kevin MacNeil dem Englischen hinzu. ‚Scots‘ wiederum, die dritte Sprache, besteht aus 8 Dialektgruppen, die von manchem Sprachkünstler (etwa Hugh MacDiarmid oder dem viel jüngeren W. N. Herbert) – mit obsoleten oder gar erfundenen Wörtern gespickt – gern durcheinandergewirbelt werden. So viel Babel war nie! Wer wird es also den Herausgebern verübeln, wenn sie die deutsche als weitere Sprache herbeirufen: Glücklicherweise haben nämlich einige unserer qualifiziertesten Vermittler, Nachdichter und Eindeutscher angeboten, den schottischen Gedichten aufs Fahrrad zu helfen: Raoul Schrott, Ulrike Draesner, Jan Wagner, Guy Helminger, Michael Donhauser, Evelyn Schlag, Wolfgang Schlüter, Christa Schuenke, Peter Waterhouse, Franz Josef Czernin und andere – allesamt Meisterinnen und Meister ihres Faches.
Alastair Reid
Eine fremde Sprache sprechen
Wie schwer von der Zunge gehen, gemessen an unsren
gewohnten Anspielungen, diese fremden Redensarten. Welche Kluft
zwischen uns und den Ausländern, welch tiefes Vertrauen
setzen wir in den einen Satz, in der Hoffnung, unser Gegenüber
möge mit dem passenden Gesicht und Lächeln reagieren.
Wir schwanken zwischen dem, was wir zu sagen ersehnen,
und dem, was wir sagen können, bauen darauf,
daß ein Satz dem Anlaß angemessen erscheint,
daß unser Akzent plausibel und das Lächeln echt ist,
und stets stellen wir uns die ängstliche Frage des Reisenden –
was geht in der Übersetzung verloren?
Mit Sicherheit etwas. Doch horchen wir aufs Stolpern
ausländischer Freunde – wie wenig bekümmert uns da
das mißglückte Wort oder Tempus. Wir finden sie vielmehr liebenswert,
und das eigene Sprechen möchte helfende Hand sein,
oder hinkt schon aus Sympathie. Leicht zu verstehen
durch das Knäuel der Sprache ist das Herz dahinter:
Es tastet sich an uns heran und will die Syntax
in Liebe übersetzen.
(Übersetzt von Iain Galbraith)
Klaus Anders, Andreas Struve (Hrg.): „So schmeckt ein Stern“, Edition Rugerup 2011
Die Sammlung ist zwei Ordnung schaffenden Elementen verpflichtet: Sprache und Zeit. Die Originalgedichte sind in norwegischer Sprache verfasst und stammen aus dem 20. Jahrhundert, allgemein als Zeitalter der Moderne und Nachmoderne bezeichnet. Darüber hinaus gibt es keine zusammenbindenden Kriterien, die auf etwas anderes verweisen, als auf das Gedicht selbst. Die Übersetzer laden zum unbefangenen Lesen ein und verweigern eine seminaristische Haltung des Kategorisierens und Systematisierens. Das mag den Leser enttäuschen. Die Enttäuschung mag darin bestehen, dass hier kein Beitrag zur Anwendung literaturwissenschaftlicher Grundbegriffe geleistet wird. Die Gedichte werden nicht nach Epoche und Strömung bestimmt, nicht in Schule und Bewegung eingebunden. Stile werden nicht analysiert, und modernistische Kennzeichen wie Reimbrechung, Verfremdung, Verdunklung, Montage, Dissonanz oder syntaktische Experimente werden nicht herausgearbeitet. Auch wird nicht der Versuch unternommen, die Gedichte literaturgeschichtlich der europäischen Poesie zuzuordnen. Wissenschaft setzt Grenzen; Gedichte sind grenzenlos in jenem Verstand, wie Hugo von Hofmannsthal einmal sagte, dass sie grenzenlose Zustände ausdrücken. Der Leser wird durch Zeit und Sprache geführt und allein gelassen in der Hoffnung, dass das Lesen dieser breitgefächerten Auswahl Sinn macht.
Eirik Lodén
Kaprifolienschlaf
Kaprifolienschlaf kommt wie die Sommernacht
legt sich blind-zur-Ruh hier, laubkühl und duftender.
Traum um kommende Winter,
uns zu wecken, gelingt ihm nicht.
Warte nicht, sondern komm-! In einem Geißblatthaus
das Gedicht schon im Keim, staubbeutel-artig Keim:
Kaprifolienschlaf, er
kommt mit Bienen in Tausendzahl.