04. April 2011

Poetische Nachbarschaften

Es kommt, wenn von der Lyrik und ihrer Vielschichtigkeit die Rede ist, erstaunlich schnell eine Metaphorik ins Spiel, die Landschaftlichkeit und ihre Kartografie bemüht: So wird Lyrik in ihren Bezügen in die Anordnung von Landschaften und „Atlanten“ versehen, als Konzentration der sprachlichen „Nachbarschaften“ gesehen, als literarische Ortsnahme oder Ortkunde.

Nun ist diese Versuchanordnung durch geografische Bilder, in der eine gegenwärtige Lyriksituation immer wieder vermessen wird, ja durchaus naheliegend. Gerade das Bild der Nachbarschaften und Grenzen beschreibt treffend jenes tatsächliche Übertreten in fremde Gebiete und Sprachen, das die gegenwärtige Lyrik (wie seit Langem nicht mehr) betreibt und antreibt: In das Gedicht, dieses konzentrierteste Textbeziehungsphänomen, mischen sich Einsprengsel fremder Sprachen, Elemente aus den Dialekten, Zitate wie „nie verstummende Zikaden“ (O. Mandestam), Exzerpte und Extrakte, Spurenelemente aus vergangenem oder rotwelschem, alltäglichem oder literarischem Sprechen, Fachsprachen und Jargons. Eine solche Inventur sprachlicher Möglichkeiten, die das Gedicht zu Recht zum „Gedächtnis der Sprache“ (Jacques Roubaud) macht, findet in der Tat immer wieder durch Versuche der bildhaften Verortung ihre Ordnung.

So zutreffend also von den Landschaften im Gedicht selbst oft gesprochen wird, so sehr mögen mit der zweitägigen Veranstaltung im April Landschaften der Lyrik konkret beleuchtet werden. Es sei demnach von den linguistischen Nachbarschaften gesprochen, von den Poesien und Poetologien der unterschiedlichen Länder, von den gegenwärtigen Entwicklungen des Gedichts in den unterschiedlichen Kulturen und Sprachen, aber auch von der Leistung, die dabei der Übersetzung zukommt.

Im Zentrum steht dabei der Blick in den Norden Europas, der sich mit den Übersetzern Klaus Anders und Iain Galbraith, der Übersetzerin und Verlegerin Margitt Lehbert und dem norwegischen Dichter Eirik Loden die schottische und norwegische Lyrik vornimmt und diese in Lana präsentiert.

Mit der ausgezeichneten Neuübersetzung des Gedichtsbandes „Grasblätter“ von Walt Whitman, die Jürgen Brocan geleistet hat, nimmt die Veranstaltung die Rezeption eines Klassikers auf, der die Moderne Amerikas wesentlich fundiert hat und bis heute auf viele Dichtung wirkt.

Dass die Grenzen zwischen Übersetzungspraxis und poetischer Praxis verschwimmen, weist nicht allein auf ein Phänomen des gegenwärtigen Lyrikbetriebs hin, der damit auch schon sehr umtriebig umgeht. Vielmehr fußt die Erscheinung auf einer langen Tradition der Übersetzer-Dichter und Nachdichter, die ihre literarische Arbeit gerade über die poetische Übersetzung definieren. Diese Spur nimmt die Veranstaltung auf, indem sie die Übersetzer Klaus Anders, Iain Galbraith und Jürgen Brocan als Dichter präsentiert.

 

Walt Whitman: „Grasblätter“ neu übersetzt von Jürgen Brôcan (Hanser Verlag 2009)

„Er ist Amerika“, sagte Ezra Pound über den Dichter Walt Whitman. In seinen „Grasblättern“ besingt er den Aufbruch der USA nach dem Bürgerkrieg. Der Lyriker Jürgen Brôcan hat dieses zentrale Werk der amerikanischen Literatur mehr als ein Jahrhundert nach Erscheinen erstmals vollständig auf Deutsch übersetzt und mit einem Nachwort und einem ausführlichen Kommentar versehen. Im Schmelztiegel seiner Dichtung vereint Whitman Ideen aus Kultur, Gesellschaft, Politik, Wissenschaft und Mystik seiner Zeit. Seine Gesänge sind Abbild und Vision einer modernen Nation der „Vereinigten Staaten“, die Spaltungen überwinden und allen Menschen Freiheit und Gleichheit bringen soll.

Die Gedichtsammlung des amerikanischen Homer und Dante, wie auch Whitman genannt wird, gilt als Grundstein der modernen und eigenständigen amerikanischen Dichtung. Die Übersetzung wurde mit dem Paul Scheerbart-Preis 2010 ausgezeichnet.

„Jürgen Brôcans beeindruckender editorischer Leistung ist es zu verdanken, dass Whitmans sämtliche Gedichte nun erstmals in ihrem Kontext – versehen mit zahlreichen Interpretations- und Hintergrundinformationen – zu lesen sind. Zu Neuübersetzungen ist es nur dort gekommen, wo die bisherigen Übertragungen undeutlich oder falsch waren. Brôcan ist es zu verdanken, dass wir diesen großen Dichter Amerikas, der den Aufbruch seiner Nation aufmerksam begleitet und in Versform gebannt hat, nun wiederentdecken und heute noch einmal den historischen Momenten beiwohnen können, in denen eine ganze Nation der Welt ein selbstbewusstes »Salut au Monde« entgegen ruft.“ (Die Berliner Literaturkritik, 2.02.10)

 

Gesang meiner selbst

 

1
Ich feiere mich selbst und singe mich selbst,
Und was ich mir anmaße, sollst du dir anmaßen,
Denn jedes Atom, das mir gehört, gehört genausogut dir.

Ich schlendere und lade meine Seele ein,
Ich bücke mich, schlendere behaglich und betrachte einen Halm
des Sommergrases.

Meine Zunge, jedes Atom meines Blutes aus diesem Boden,
dieser Luft geformt,
Hier geboren von Eltern, die hier geboren wurden, und deren
Eltern ebenfalls, und deren Eltern ebenfalls,
Ich, siebenunddreißig Jahre alt jetzt, bei voller Gesundheit,
beginne
Und hoffe, nicht aufzuhören bis zu meinem Tod.

Glaubenslehren und Schulen im Ungewissen,
Eine Weile auf dem Rückzug, begnügt damit, was sie sind, doch
niemals vergessen,
Ich bin Hafen für Gut und Böse, ich erlaube zu sprechen auf
jede Gefahr,
Natur ohne Zaum mit ursprünglicher Kraft.

 

3
Ich hörte, was die Schwätzer schwatzten, das Geschwätz von
Beginn und Ende,
Aber ich schwatze nicht von Beginn und Ende.

Es gab niemals mehr Anfang als heute,
Niemals mehr Jugend und Alter als heute,
Und es wird niemals mehr Vollkommenheit geben als heute
Oder mehr Himmel und Hölle als heute.

Trieb und Trieb und Trieb,
Immer der zeugende Trieb der Welt.

Aus der Düsternis treten gegnerische Gleiche, immer Substanz
und Mehrung, immer Geschlecht,
Immer ein Gewebe der Identität, immer Unterschied, immer
Zeugung des Lebens.

Nähere Ausführung ist unnutz, Gelehrte und Ungelehrte spüren,
daß es so ist.

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