Jemand malt ein Bild. Auf das Bild antwortet jemand mit einem Gedicht. Daraus macht jemand eine Zeichnung, worauf wieder jemand mit einem Text reagiert, auf den ein anderer Jemand eine Skulptur anfertigt, die der Anstoß zu einer Geschichte wird. Das geht fort und fort, ohne dass der eine weiß, wer die andere ist. Kunst und Dichtung gehen eins ins andere über und ordnen sich entlang einer allmählichen Verfertigung eines Ganzen. Einem Chor vergleichbar, wird das Werk zur Stimme aus Stimmen, die Ahnung und Wissen ist, Furcht und Freude und das, was nur ein Aufeinander-Hören zu sagen vermag. Ein Chor von Zikaden.
Mit Johannes Bosisio, Ann Cotten, Leander Schönweger, Martina Steckholzer, Monika Rinck, Dagmara Kraus, Arnold Holzknecht, Lene Morgenstern, Esther Kinsky, Michael Höllrigl, Josef Oberhollenzer, Wil-ma Kammerer, Sissa Micheli, Oswald Egger, Carmen Müller, Bertrand Huber
Kuratiert von Heinrich Schwazer und Christine Vescoli
Malerei sei ‚stumme Dichtung‘ und Dichtung ‚redende Malerei‘ hielt Horaz in seiner ut pictura poesis-Formel fest. Recht geschwisterlich waren die „Schwesterkünste“ jedoch nie. Für Leonardo da Vinci war die bildende Kunst im Wettkampf zwischen den Künsten, der sogenannte „paragone“, der Dichtung überlegen. Gotthold Ephraim Lessing arbeitete in seiner wirkungsmächtigen Schrift „Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie“ (1766) eine strikte kategoriale Trennung der Künste heraus, die von den Romantikern sogleich wieder nivelliert und in eine Universalpoesie überführt wurde.
Im 20. Jahrhundert hat der Modernismus der Malerei jeglichen Kontakt mit der Literatur verboten, gleichzeitig wanderten im Futurismus, in der Konzeptkunst und der visuellen Poesie Worte in den Bildraum ein, um dort als das Andere der Malerei (die sprachliche Mitteilung) zu ihrem Eigenen gemacht zu werden.
Aktuell haben die neuen digitalen Medien inter-/mediale Möglichkeiten eröffnet, die althergebrachte Text-Bild-Unterscheidungen scheinbar überflüssig machen. Die Gegenwartskultur und -kunst sind von einer schier totalen Durchlässigkeit zwischen den Medien geprägt. Das experimentierfreudige Theater und die Performance Art sowie die Spoken-Word-Dichtung beispielsweise problematisieren und überschreiten die Grenzen ihres eigenen Mediums auf vielfältige Weise. Begleitet wird der Siegeszug der Medienbilder (der digital codierten Bilder) und dem damit einhergehenden vorgeblichen Ende der Ära des künstlerischen Bildes, von scheinbar widersprüchlichen Stichworten wie „Bilderlosigkeit“, „Bilderflut“ sowie einer fortschreitenden Marginalisierung von Sprache, Schrift und Buchkultur.
Im Kontext solcher Fragestellungen ist die Ausstellung „Zikaden“ in der Kunsthalle West angesiedelt. Am Anfang stand die Idee, den in der Festung Franzensfeste im Rahmen der Ausstellung „Lockout“ (2020) begonnenen Dialog zwischen bildender Kunst und Literatur fortzusetzen. War es damals noch weitgehend ein Nebeneinander, so geht es jetzt um die Erprobung von Möglichkeiten des Flüssigen dazwischen.
Nach dem Prinzip der stillen Post und dem Lieblingsspiel der Surrealisten, „Cadavre Exquis“ lieferte ein erster Künstler ein Bild ein, auf das ein/e Dichter/in mit einem Text antwortete. Der/die nächste Künstler/in antwortete auf diese Antwort. Das ging fort und fort, ohne dass der eine wusste, wer die andere ist. In Blind Dates gingen Kunst und Dichtung eins ins andere über und ordneten sich entlang einer allmählichen Verfertigung eines Ganzen.
Denken, Stil und Methoden der KünstlerInnen und SchriftstellerInnen werden in immer neuen gegenseitigen Übersetzungen so anschaulich wie selten. Erst am Ende, bei der Ausstellung, sehen alle alles. Einem Chor vergleichbar ist das Gesamtwerk eine Stimme aus Stimmen.